Das Warten positiv sehen
Ein Plädoyer von Martin Vorländer
Warten raubt uns Zeit und stört den gut geplanten Tagesplan. Pfarrer Martin Vorländer freut sich zwar nicht, wenn die Bahn nicht kommt – aber er findet Wege, wie er das ärgerliche Warten in Erwartung und sinnvolle Zeit verwandeln kann.
Dieses Mal wollte ich gelassen ankommen und nicht gehetzt auf den letzten Drücker. Sondern ganz entspannt rechtzeitig losgehen. Genügend Zeit einkalkulieren, um die Fahrkarte zu lösen und das richtige Gleis zu finden.
Am Bahnsteig angekommen, höre ich die Durchsage: „Der Zug hat zehn Minuten Verspätung. Wir bitten um Verständnis.“ Gut, für zehn Minuten habe ich Verständnis. Dafür ist der Zeitpuffer ja da, den ich eingeplant habe.
Dann wieder die freundliche Frauenstimme über Lautsprecher. Nun sind es zwanzig Minuten Verspätung. Dann dreißig. Von ganz entspannt und „slow“ kann keine Rede mehr sein.
Warten kann schwer fallen
Warten kann schwer fallen. Oder es wird einem schwer gemacht. Jeden Tag gibt es Leerlaufzeiten, die lästig und nervig sind. Was tun beim Warten, das scheinbar nutzlos ist? Eine Seelsorgerin in einem großen Krankenhaus erzählte mir: „Immer wenn ich auf den Lift warte, bete ich eine Runde. Ich denke an die Patienten, die ich besuche, und schließe sie still in mein Gebet ein.“
Beten, bis die Bahn kommt
Beten, bis der Lift kommt oder bis die Ampel grün wird - warum eigentlich nicht? Die alltäglichen Wartezeiten werden durch Genervtsein nicht kürzer. Sie sind Gelegenheit, um denen gute Gedanken zu schicken, die Unterstützung gebrauchen können: der Freundin, die Lampenfieber vor einem Bewerbungsgespräch hat. Dem Kollegen mit einer ernsten Diagnose. Dem Kind, das gerade einen schweren Stand in der Schulklasse hat.
Es hilft, wenn einer sagt: Ich denke an dich. Jeden Tag gibt es Wartezeiten, in denen man an andere denken kann, die gute Gedanken brauchen können. Das sind wunderbar sinnvolle Wartezeiten, um das eine oder andere Gebet für sie loszuschicken.
Warten als Vorbereitungszeit
Warten ist ganz unterschiedlich. Mal ist es ein Aushalten-müssen. Eine Entscheidung ist in der Schwebe, und ich kann nichts tun als warten und auf ein gutes Ende hoffen.
Dann wieder bedeutet Warten Vorbereitung. Das Warten gibt mir Zeit, mich auf eine Veränderung einzustellen. Ich kann Vorkehrungen treffen, die äußeren Dinge organisieren und mich innerlich sortieren: Was wird das bevorstehende Ereignis für mich ändern?
Werdenden Eltern kann es so gehen. Sie erfahren: „Wir bekommen ein Baby!“ Das Kind kommt nicht von heute auf morgen. Die Monate der Schwangerschaft geben Zeit, sich auf die Ankunft der oder des Kleinen vorzubereiten, das Kinderzimmer herzurichten, über Namen nachzudenken. Zugleich steigt die Vorfreude: „Wie wird das sein, wenn wir unser Kind in den Armen halten?“
Beim Warten wachsen
So ist das auch mit anderen Lebensveränderungen, mit denen man schwanger geht. Sie dürfen wachsen. Eine Idee, ein Projekt will reifen. Ich kann mich vorbereiten. Und die Vorfreude spüren. So wie man sich auf die Rückkehr eines geliebten Menschen freut. Oder wie ein Kind, das sich in den Wochen vor Weihnachten ausmalt, wie das sein wird, wenn das Piratenschiff an Heiligabend seine Jungfernfahrt durch die Wogen des Wohnzimmerteppichs antritt oder das Puppenpferd seinen ersten Ausritt macht.
Warten und auf Gott vertrauen
In der Bibel ist Maria, die Mutter Jesu, die Frau, die warten kann und höchste Erwartungen hat. „Ich bin dazu gekommen wie die Jungfrau zum Kinde“, sagt man und das klingt eher entschuldigend: „Ich habe nichts damit zu tun, es ist mir zugefallen, ohne dass ich es wollte.“ Den entschuldigenden Ton braucht es gar nicht: Wie die Jungfrau zum Kinde – das ist eine Erfolgsgeschichte. In der Bibel kommt das Höchste dabei heraus, wenn ein Mensch sich auf das einlässt und auf das warten kann, was Gott ihm oder ihr in den Schoß wirft.