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Michel Friedman und Volker Jung: Welche Rolle spielt Religion in einer säkularen Welt?
veröffentlicht 14.11.2024
von Caroline Schröder
So lautete der Titel der diesjährigen Rabbiner Brandt-Vorlesung am 13. November in Bad Nauheim, veranstaltet anlässlich des 75jährigen Jubiläums des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.
Statt einer Vorlesung moderierte die ehemalige Fernsehmoderatorin Petra Gerster eine Podiumsdiskussion zwischen dem Publizisten Michel Friedman und dem Kirchenpräsidenten der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Volker Jung.
Rolle von Religion im US-Wahlkampf
Dabei ging es zunächst um die US-Wahlen und die Rolle, die Religion darin spielte. „Für uns in Europa ist das ein Problem, wenn der wichtigste Mann der größten modernen Demokratie der Welt diese Werte mit Füßen tritt“, so Michel Friedman. „Donald Trump hat stark mit religiösen Impulsen gearbeitet, die er aber in eine Art Gegenbewegung zur Emanzipation eingesetzt hat.“ US-Bürgerinnen und Bürger hätten gewusst, dass sie einen verurteilen Präsidenten wählen, der mit Aufrufen zu Gewalt den Sturm auf das Kapitol mit initiiert habe.
Volker Jung ergänzt: „Die Art und Weise, wie sich Trump im US-Wahlkampf auf christliche Werte bezogen hat, ist hochproblematisch. Er hat den christlichen Glauben nationalistisch vereinnahmt und wurde dabei von der christlichen Rechten gestützt. Das Evangelium von der Liebe Gottes gilt allen Menschen. Und alle meint alle. Da ist es unmöglich, Menschen zu diskriminieren, wie Donald Trump dies getan hat.“
Glaube und Vernunft können gemeinsam existieren
Zur Frage, wie es um die Rolle von Religion hierzulande bestellt ist, betont Jung, dass es nicht darum gehe, Dinge, die man wissenschaftlich erklären kann, zum Gegenstand des Glaubens zu machen. „Nehmen wir das Beispiel der Schöpfung: Die Schöpfungsberichte der Bibel sind Glaubenszeugnisse. Sie dürfen nicht an die Stelle von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen gesetzt werden. Aber die Frage, ob unsere Welt ein Produkt des Zufalls ist oder ob etwas oder jemand Größeres dahinter steht, kann ich nur im Glauben beantworten.“
Jung sei überzeugt, dass Glaube und Vernunft gemeinsam existieren können, und dass auch die Theologie von Aufklärung profitiert hat. „Die Mündigkeit des Menschen wurde gestärkt, und das ist zu begrüßen“, so Jung. „Gleichzeitig sehen wir in Studien, dass das Transzendenzbedürfnis vieler Menschen in Deutschland abnimmt. Das gilt genauso auch für viele andere Gesellschaften. Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen – jetzt mal bewusst pathetisch formuliert – von der Dimension des Heiligen in ihrem Leben berührt werden.“
Dem entgegnete Friedman: „Weltliche Werte gelten für sich. Dafür brauche ich keine Religion mehr.“ Jung ergänzte, dass die im Grundgesetz ausgedrückten Werte durchaus humanistische Quellen haben – aber eben auch stark aus der jüdischen und christlichen Tradition geprägt seien.
Sind Staat und Religion in Deutschland ausreichend getrennt?
Friedman kritisierte, dass in Deutschland noch immer keine vollständige Trennung zwischen Kirche und Staat erreicht sei: „In Frankreich ist das anders, in Deutschland geht mir das nicht weit genug.“
Dazu Jung: „Eine solche Trennung haben wir de facto, aber der Staat setzt auf Kooperation – im Übrigen nicht nur mit den Kirchen, sondern mit allen Religionsgemeinschaften. Aus der Erfahrung mit einem totalitären Regime setzt der Staat darauf, dass im Sinn des Subsidiaritätsprinzips auch Aufgaben an die Religionsgemeinschaften und ihre Wohlfahrtsverbände zu übertragen – etwa im Bereich der Bildung. “
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