Evangelische Kirche in Hessen und Nassau
Sechs brennende Kerzen vor schwarzem Hintergrund

© gettyimages, fermate

Gedenkens an die vielen Opfer der Novemberpogrome

9.11: Erinnern an die Novemberpogrome

veröffentlicht 13.10.2023

von Martin Vorländer, Anja Harzke, Online-Redaktion der EKHN

Am 9. November gedenken wir der Jüdinnen und Juden, die während des Nationalsozialismus verfolgt, gequält und ermordet wurden.

Der "Tag des Gedenkens an die Novemberpogrome" am 9. November gehört seit 2018 zu den offiziellen Gedenktagen der Evangelischen Kirchen in Deutschland. An diesem Tag wird an die jüdischen Opfer der Novemberpogrome der Nationalsozialisten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 gedacht.

2023 ist die Sicherheitslage von Jüdinnen und Juden wieder angespannt 

Im Oktober 2023 waren Jüdinnen und Juden wieder Gewalt-Exzessen ausgesetzt: Die radikalislamische Hamas hat bei einem Terrorangriff auf Israel viele Jüdinnen und Juden getötet, verletzt und verschleppt. Nachdem auch in Deutschland israelfeindliche und antisemitische Parolen bei Demonstrationen gefallen sind, machen sich viele jüdische Bürger:innen Sorgen um ihre Sicherheit - zumal antisemitische Straftaten zugenommen haben.  Die beiden Geistlichen der beiden hessischen Kirchen erklären in einer Mitteilung: „Wir stehen an der Seite von Jüdinnen und Juden.“ Die EKHN und der Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Hessen haben deshalb ein Verbot von Kundgebungen, „die die Taten des Terrors auf unseren Straßen bejubeln“ gefordert. Weiter heißt es: „Wir solidarisieren uns mit den Opfern und ihren Angehörigen." Zudem wird zu Gebeten aufgerufen.
Die Bischofskonferenz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) betont in einer Stellungnahme selbstkritisch die Verantwortung lutherischer Geistlichen die besondere Verantwortung, „im Erinnern an die schreckliche Geschichte der Deutschen im Umgang mit Jüdinnen und Juden für ein Miteinander aller Menschen im Geist der Nächstenliebe zu werben – ein Gebot der Tora, das Jesus als ‚höchstes Gebot‘ unterstreicht“.

Kirche: Gedenken an Opfer und Auseinandersetzung mit eigener Verantwortung

Der 9. November ist für die evangelische Kirche ein Tag des Erinnerns an die Leiden der Opfer aber auch ein Tag der Besinnung auf das mutige Zeugnis derer, die damals widersprochen haben und in deren Tradition wir uns heute stellen. Zudem hat sich die EKHN mit den historischen und theologischen Dimensionen der christlich begründeten Judenfeindschaft auseinandergesetzt. Eine Folge davon war die Erweiterung ihres Grundartikels.

Kurz gefasst: Das geschah während des Novemberpogroms

Die regierenden Nationalsozialisten hatten 1938 das gewaltsame Vorgehen angeordnet, wordurch hunderte Jüdinnen und Juden starben, über tausend Synagogen und 7500 jüdische Geschäfte wurden zerstört. Zudem wurden 30.000 jüdische Männer für einige Monate in Konzentrationslager verschleppt. 
Damals hat in der evangelischen Kirche zu den Ereignissen mehrheitlich Schweigen, Wegschauen oder gar offene Zustimmung geherrscht.

Gebet zum 9. November

Wir bitten dich Gott für unsere jüdischen Geschwister,
ihre Kinder und Kindeskinder,
die die grausamen Erinnerungen nicht loswerden können.
Erinnerungen an Verfolgung, Gewalt und Tod.
Sei du bei ihnen allen, heile ihre Seelen.

Wir bitten dich Gott um Ausgleich und aufeinander zu gehen.
Wir bitten dich für alle, die sich dafür einsetzen,
dass Ausgrenzung und Hass überwunden werden.
Steh ihnen bei und gib ihnen Kraft und Mut.

Wir bitten dich Gott,
lass uns alle respektvoll miteinander umgehen,
aufeinander zugehen und füreinander einstehen.
Wir bitten dich Gott um Frieden.

Amen

[von Pfarrer Lutz Neumeier]

Die Details: Blick in die Geschichte

Der 9. November 1938 war ein Mittwoch. In München sind Adolf Hitler, sein Propagandaminister Joseph Goebbels und Nazi-Kämpfern der ersten Stunde versammelt, um an den Hitler-Putsch von 1923 zu erinnern und diesen heldenhaft zu feiern. Im Saal des Alten Rathauses am Münchner Marienplatz kommt man zu einem so genannten „Kameradschaftsabend“ zusammen. Gegen 22 Uhr trifft die Nachricht ein, dass der deutsche Diplomat (vom Rath) gestorben ist, auf den sechs Tage zuvor ein polnischer Jude (Herschel Grynszpan) in Paris ein Attentat verübt hat. Dies nimmt Goebbels zum Anlass, um in einer Hetzrede indirekt zum Pogrom gegen Juden aufzurufen. 

Die Parteimaschinerie der Nazis funktioniert sofort und mit mörderischer Präzision. Der Polizeipräsident von Frankfurt (Adolf Beckerle) ruft noch aus München in Frankfurt an und bestellt seine SA-Gruppe ein. Ab 3.00 Uhr am Morgen des 10. November wird der Pogrom vorbereitet: Lastwagen werden mit Benzinkanistern beladen und zu den Frankfurter Synagogen gefahren.

Die Synagogen brennen

Ab 5.00 Uhr früh werden die Synagogen aufgebrochen und in Brand gesteckt. Die Synagoge im Westend und die Synagoge am Börneplatz brennen. Die Feuerwehr steht dabei, aber schützt nur den „arischen Besitz“. Die Polizei ist da, aber sorgt nur für Ruhe und Ordnung, sprich dafür, dass die Verbrechen in mörderischer Ruhe und mit deutscher Ordnung begangen werden können. 

Gebäude der Offenbacher Synagoge steht noch

Auch in Offenbach wurde die Synagoge wurde angezündet. Durch verschiedene Umstände brannte sie aber nur wenig innen aus und der Brand wurde  gelöscht, so dass das Gebäude  nicht zerstört wurde, sondern erhalten blieb. Allerdings wurde der größte Teil der Bücherei mit etwa 2500 Bänden Judaica und wertvollen Dokumenten vernichtet. Das Gebäude ist das heutige Capitol. Nach dem Krieg erbaute die nur noch sehr kleine jüdische Gemeinde eine neue Synagoge direkt gegenüber. Es ist der erste Synagogenneubau nach dem Krieg in Hessen.

Deportation ins KZ währen der Novemberpogrome

Ab 6.00 Uhr früh werden Geschäfte und Wohnungen von Frankfurter Juden von SA, SS, Gestapo, Polizei, sogar von der Hitlerjugend überfallen. Männer und Frauen, Alte und Jugendliche werden verhaftet. Die verhafteten Männer werden in der Frankfurter Festhalle zusammengetrieben. Sie müssen Wertsachen, Uhren, Ringe, Geld, Pässe abgeben. Am Abend werden sie von der Festhalle zum Südbahnhof transportiert. Von dort fahren die Züge zu den Konzentrationslagern. In den Tagen der Novemberpogrome werden über 3.000 Juden aus Frankfurt nach Dachau und Buchenwald deportiert.

Die Shoa

Schon zuvor waren Juden in Deutschland entrechtet und diskriminiert worden. Seit den November-pogromen wurden sie systematisch verfolgt, bis hin zum Holocaust, zur Shoa, dem erklärten Ziel, alle Juden in Europa zu töten. 1933 lebten in Frankfurt fast 30.000 jüdische Bürger. 1944 hatten in Frankfurt 242 Juden überlebt. Die anderen waren im besseren Fall rechtzeitig geflohen. Die meisten waren deportiert und wurden ermordet.

Dem Grauen zugeschaut

Was tun die anderen Bürger, als ihr Staat für alle offensichtlich zum Verbrecher und Mörder wird? Tausende gaffen, wie die Synagogen brennen. Einer sagt, als die Straßenbahn an den zerstörten Geschäften vorbeifährt: „Da hat’s gescheppert.“ Ein Hitlerjunge schreibt in seinem Bericht: „Einem (Juden) haben wir den Bart und die Pajes (Schläfenlocken) abgeschnitten. Der sah hinterher wie eine Runkelrübe aus. Der war vielleicht komisch. Und geglotzt hat er wie ein Frosch.“ Viele schweigen und sprechen hinter vorgehaltener Hand von der „Reichskristallnacht“, als wäre nur Glas zu Bruch gegangen und nicht Menschen ermordet worden. Es gibt auch solche: Der Hauswart der Westendsynagoge, ein frommer Katholik, war von der SS halbtot geschlagen worden, weil er den Schlüssel zur Synagoge nicht hergeben wollte.

Das Verlesen der zehn Gebote richtet gegen den Terror nichts aus

Was tun die Kirchen und die Kirchengemeinden? In München, von wo der Pogrom seinen Ausgang genommen hat, tagt wenige Tage später die damalige Kirchenleitung. Man überlegt, ob die evangelische Kirche gegen die Gewalt protestieren soll, und entscheidet sich, lieber nichts zu sagen. In Nürnberg verliest die Pfarrerschaft in der Lorenzkirche im Gottesdienst die Zehn Gebote. Nur die Zehn Gebote. Du sollst nicht töten. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.

„Wir hätten zum Himmel schreien müssen“

Eine Frau hier aus Sachsenhausen, die damals ein junges Mädchen war mit engen jüdischen Freunden, sagt heute: „Wir hätten schreien müssen. Wir hätten zum Himmel schreien müssen, selbst wenn das nichts gebracht hätte.“

Was geschah noch am 9. November?

Auch in anderen Jahren markierte der 9. November einen politischen Wendepunkt für die deutsche Geschichte. Deshalb gilt der 9. November  als „Schicksalstag der Deutschen“:

Am 9. November 1848 wurde der Revolutionär Robert Blum, eine Symbolfigur für den Umbruch der Revolution zwischen Herbst 1848 und Frühjahr 1849, hingerichtet.  Sein Tod gilt als Symbol für den Anfang vom Ende der Revolution von 1848.

Am 9. November 1923 scheiterte der „Hitlerputsch“ in München, bei dem Hitler erstmals versuchte, eine nationale Revolution und Absetzung der Regierung durchzuführen.

Am 9. November 1918 hatte der Reichskanzler Max von Baden die Abdankung des deutschen Kaisers Wilhelm II verkündet. Damit endete die Monarchie in Deutschland. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Philipp Scheidemann hatte daraufhin die erste deutsche Republik ausgerufen. Diese hatte jedoch keinen Bestand. Zwei Tage später endete am 11.11.1918 der Erste Weltkrieg.

Nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ 1933 brannten am 9. November 1938 die Synagogen. Die Pogromnacht war ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zum organisierten Massenmord an den Juden.

Einen Gegensatz zu diesen Ereignissen bildet der 9. November 1989, an dem sich zum ersten Mal die Mauer für alle Bewohner Ostdeutschlands öffnete, was schließlich zur Wiedervereinigung Deutschlands führte.

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