Kuscheln, flirten und mehr
Menschen mit Beeinträchtigungen entdecken Sexualität
Ocskaymark/istockphoto.com
28.04.2017
cm
Artikel:
Download PDF
Drucken
Teilen
Feedback


„Jeder Mensch hat ein Recht darauf, Liebe und Sexualität leben zu können“, sagt Renate Pfautsch. Sie leitet die Gemeinnützige Behindertenhilfe GmbH des Evangelischen Vereins für Innere Mission in Nassau (EVIM) in Wiesbaden. Für Menschen mit Beeinträchtigungen bietet der Verein beispielsweise Betreuungsmöglichkeiten und Werkstätten an. Seit über zwanzig Jahren arbeitet Renate Pfautsch mit behinderten Menschen zusammen. Durch die langjährige Erfahrung weiß sie: Diese Menschen haben häufig viele Fragen, wenn es um Liebe und Zärtlichkeit geht. Zum Beispiel: „Wie bahne ich eine Beziehung an? Wie flirte ich? Oder was heißt Beziehung?“
Klischees aus Zeitschriften oder Filmen verunsichern
Renate Pfautsch und Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erleben oft, dass Klischees aus Zeitungen oder Filmen beeinträchtigte Menschen verunsichern . Ihre Klienten denken dann manchmal, in einer „richtigen“ Beziehung seien die gemeinsame Wohnung und eigene Kinder ein Muss. Auch mit pornographischen Filmen seien manche in Kontakt gekommen. Es könne passieren, dass diese Szenen als Vorlage dienen, wie Sexualität auszusehen habe. Daraus ergeben sich auch Unsicherheiten, sagt Pfautsch. Ihre Klienten fragen sich dann: „Das muss ich mit mir machen lassen?“. Um Klischees entgegenzuwirken und aufzuklären, ist es der Leiterin sehr wichtig, offen mit den Themen Sexualität und Liebe umzugehen.
Dabei hilft die „Schatzkiste“. Die Beratungsstelle des EVIM verbindet beeinträchtigte Menschen miteinander, die auf der Suche nach einer Beziehung sind. Die Behindertenhilfe des EVIM unterstütze ihre Klienten in vielen Bereichen.
„Sex auf Rezept“ wird kritisch gesehen
Geschäftsführerin Pfautsch möchte ihre Klienten dabei unterstützen, Hindernisse wegzuräumen, nicht aber alle Wünsche erfüllen. Den Zugang zu Beziehungserfahrungen möchte sie allerdings schon ermöglichen sowie die Voraussetzungen dafür schaffen. Die Idee vom „Sex auf Rezepte“, wie sie von Elisabeth Scharfenberg von Bündnis90/Die Grünen in der Zeitung Welt am Sonntag Anfang 2017 veröffentlicht wurde, sieht Pfautsch kritisch.
Anders als Renate Pausch von EVIM sieht das Ute Himmelsbach. Ein Teil ihres Jobs ist Sexualbegleitung für Menschen mit Behinderung. Sie ist Diplom-Sozialarbeiterin, bietet unter anderem Tantra-Massagen an. Den Anstoß der Grünen findet sie positiv. Denn dadurch wurde die Sexualbegleitung zum öffentlichen Thema. Aber für Himmelsbach ist der Vorschlag „zu wenig differenziert. Nicht jeder möchte eine Förderung. Es gibt auch Gutverdiener bei behinderten Menschen, die keine Förderung benötigen.“ Himmelsbach schlägt individuelle Anträge vor, so könne im Einzelfall geschaut werden, was der Bedarf sei und aus welchem Topf das Geld kommen könne.
Sexualbegleitung und Prostitution unterscheiden sich
Seit sechs Jahren arbeitet Ute Himmelsbach als Sexualbegleiterin für behinderte Menschen. Was sie dazu motiviert hat, war „diese Tiefe des sehr nahen menschlichem Kontakts“. Himmelsbach grenzt sich ganz klar von der Prostitution ab. Sie biete keine einmaligen Sachen an und es gehe auch nicht darum, „ein Programm abzuspulen“. Sie stelle Zeit zur Verfügung, was sich dann entwickeln würde, sei offen. Eine Stunde kostet 80 Euro. Für die Sexualbegleiterin ist es wichtig, dass die Chemie zwischen ihr und ihrem Gegenüber stimmt. Aus diesem Grund führt sie ein Vorgespräch und begleitet die beeinträchtigten Menschen über einen längeren Zeitraum. So möchte sie „authentische Begegnungen ermöglichen und mit den Gefühlen dabei sein.“
Körperliche Zuwendung nehmen und geben
Häufig sind es die Basics einer zwischenmenschlichen Beziehung, die sie mit ihren Kunden übt. Himmelsbach regt zum Beispiel dazu an: „Es wäre viel schöner, wenn du dich duschst, bevor wir uns treffen“. Meist stehe die sexuelle Begegnung nicht im Vordergrund, sondern entwickele sich „wie in einer normalen Beziehung auch“, betont Himmelsbach. Trotzdem macht die ihren Kunden klar: „Ich gehöre nicht in das Privatleben“.
Sie sieht sich als Trainerin und Begleiterin. Sie lässt ihre Kunden spüren: „Ich kann schön streicheln und umarmen“. Für die Kunden sei diese Erfahrung wichtig, denn „das speichert sich, das sind sehr positive gefühlsmäßige und körperliche Erlebnisse, das verändert“. Bei vielen ihrer Kunden so stark, dass sie durch die Zeit mit der Sexualbegleiterin offener für Freundschaften und Beziehungen werden. „Es gibt ein viel stärkeres Selbstbewusstsein, selbst etwas geben und fühlen zu können“, erklärt Himmelsbach.
Grenzen setzen, sich vor Missbrauch schützen
Ein starkes Selbstbewusstsein ist auch das Stichwort von Renate Pfautsch. Denn gerade „Menschen mit Beeinträchtigung werden sehr oft Opfer von Übergriffen und Missbrauch“, erklärt sie. Aus diesem Grund sei es wichtig, dass Menschen beim Thema Sexualität ihre Grenzen kennen und ein starkes Selbstbewusstsein entwickelten.
Lernen, mit der eigenen Sexualität verantwortungsvoll umgehen
Dafür erhält sie Zustimmung von Dr. Raimar Kremer, Studienleiter im Zentrum Seelsorge und Beratung der EKHN: „Sexualität ist ein Teil der Persönlichkeit von Menschen, auch von Menschen mit Beeinträchtigungen.“ Deshalb solle vor allem in der Seelsorge das Thema nicht tabuisiert werden. Studienleiter Kremer rät: „Mit beeinträchtigten Menschen sollte darüber gesprochen werden, wie sie mit ihrer Sexualität verantwortungsvoll umgehen können.“ Um Seelsorgerinnen und Seelsorger dabei zu unterstützen, plant das Zentrum für das Jahr 2018 eine entsprechende Fortbildung. „Kirche soll Menschen begleiten, deshalb gehört auch das Thema Sexualität in die Seelsorge“, so Pfarrer Kremer. Neben den Menschen mit Beeinträchtigungen sollten aber auch deren Eltern sowie Betreuerinnen und Betreuer in den Blick genommen werden, die ebenfalls mit dem Thema konfrontiert seien.