Gastbeitrag – Teil 1
Wachsen gegen den Trend
http://www.auferstehungsgemeinde.de
26.08.2015
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Vor bald zehn Jahren forderte Wolfgang Huber in der Reformschrift „Kirche der Freiheit“, dass die Kirche trotz aller strukturellen Widrigkeiten ein „Wachsen gegen den Trend“ anstreben solle. Unter Wachstum verstand der ehemalige Ratsvorsitzende der EKD einen quantitativ fassbaren Aufwärtstrend. Tauf- und Trauquoten, aber auch Mitgliedschaftszahlen und Gottesdienstbesuche sollten messbar ansteigen, um sich gegen die Tendenz geringerer Kircheneintritte, weniger werdender Finanzen und somit auch einer schrumpfenden gesellschaftlichen Relevanz zu wehren.
Der Ursache des Wachstums auf der Spur
Der mittlerweile emeritierte Theologieprofessor Wilfried Härle machte sich Hubers Wachstumsmaßstab zu eigen und untersuchte genau solche Kirchengemeinden, die wuchsen. Deren quantitatives Wachstum konnte man nicht (allein) mit Zuzügen ins Wohngebiet oder Abzügen aus anderen Kirchengemeinden erklären. Irgendetwas mussten solche Gemeinden also richtig machen.
Wachstum – nicht nur in Zahlen messbar
Das provoziert nicht nur die Frage, was genau diese Gemeinden in ihren Ausrichtungen, Programmen und Personalentscheidungen prägt, sondern wie sie ihr offensichtliches Wachstum verstehen: Ist kirchliches Wachstum tatsächlich dann richtig erfasst, wenn es sich in volleren Kollekten und Kirchenbänken bemerkbar macht? Oder gibt es nicht noch ganz andere Merkmale von Wachstum, die machbar und erstrebenswert sind? Möchte man also wissen, wohin Kirche wachsen kann und will, muss man allerdings zuerst klären, was Kirche überhaupt ausmacht. Erfasst man sie allein über ihre messbaren Strukturen, reduziert man Kirche, so meine These, auf ihre quantitativen Werte. Sie ist in ihrer Substanz aber wesentlich mehr als das, was auf Bilanzen und Rechnungen vor Augen ist:
Ansehen der Institution
Kirche ist, qualitativ gesprochen, immer auch eine Institution. Hier wurden und werden die religiösen Handlungsweisen ganzer Generationen entscheidend geprägt. Als eine solche Institution verfügt Kirche über ein gewisses gesamtgesellschaftliches Ansehen. Insofern also weiterhin das, was religiös gang und gäbe ist, durch die Kirche wenigstens mitbestimmt wird, bleibt sie auch als Institution bestehen. Wachstum ist hier also durchaus greifbar im (kontroversen) Ansehen, das das kirchlich geprägte Christentum genießt.
Effizienz der Organisation
Zudem ist die Kirche eine Organisation. Hier haben auch die von Huber geforderten trendwidrigen Wachstumsschübe ihren Ort. Ähnlich einem Non-Profit-Unternehmen verfügt Kirche über eine eigene corporate identity, über Entscheidungsstrukturen und eine Belegschaft. Wachstum bedeutet hier immerzu mehr Effizienz, mehr Mitglieder und Finanzen. Im Bereich der Organisation erfahren die Wachstumsparameter von Huber und Härle ihre unbestreitbare Berechtigung.
Menschliche Begegnung als ungehobener Schatz kirchlichen Wachstums
Kirche ist aber auch Interaktion. Im Aufeinandertreffen ihrer Mitglieder untereinander oder mit anderen Personen entsteht ein Netzwerk. Vielleicht liegt hier ein oft noch ungehobener Schatz kirchlichen Wachstums verborgen. Denn wenn sich Kirche bewusst macht, dass sie Menschen durch Teilhabe an ihrem Netz stärken und absichern kann und zudem mit anderen Akteuren und Gruppen sozial aktiv wird, kann das menschliche Potential einer ganzen Region wachsen. Wenn sich die sozialen Fähigkeiten von Herrn Meier vergrößern, weil er mit dem Kirchengesangsverein beim örtlichen Spendenlauf mitmacht, ist das ein zentraler Mehrwert kirchlichen Wachstums. Hier zeigt sich ein wichtiges Element von dem, was die Substanz kirchlichen Miteinanders ausmacht: Ein bestärkendes, informierendes, wertschätzendes und freiwilliges Beisammensein. Da Kirche zudem mit ihren Inhalten und Positionen immerzu auch auf das Evangelium hinweist, findet im Horizont kirchlicher Interaktion auch (eine zurückhaltende) Mission statt.
Glaubensinhalte darstellen
Zuletzt ist Kirche auch Inszenierung. Das ist nicht negativ als Zurschaustellung gemeint, sondern soll heißen, dass Kirche ihre Inhalte und Werte irgendwie darstellt. Der Glaube an Jesus Christus kommt z.B. in der Architektur des Kirchenturms, dem Layout des Gemeindebriefs oder der sonntäglichen Liturgie zum Ausdruck. Wachstum kann hier stattfinden, indem viele Kommunikationswege und Darstellungen ausprobiert und gefunden werden. Sie sollten dabei nicht nur ein bestimmtes Milieu, sondern insgesamt die Bandbreite unserer pluralen Gesellschaft ansprechen.
Wachstum ist also nicht nur, wie Huber und Härle etwas kondensiert darstellten, ein „Mehr“ an Mitgliedern, Finanzen und Relevanz, sondern auch eine breitere und buntere Art des kirchlichen Auftretens, an dem möglichst viele Menschen in ihrer je eigenen Intensität mitwirken.
Auferstehungsgemeinde Mainz: Begegnung erleben, sich Neuem öffnen
Soweit die Theorie. Aber wie sieht das in der Praxis einer wachsenden Gemeinde aus? Die Auferstehungsgemeinde in Mainz wächst nicht nur, was ihre kirchengemeindliche Organisation an Gemeindemitgliedern und Gottesdienstbesucherinnen angeht. Sie kann auch mit Recht von sich behaupten, das Ansehen der Institution Kirche im Stadtteil zu stärken. Durch ihren Gemeindeboten an die Haushalte im Stadtteil, vor allem aber ihr Engagement bei Flüchtlingen und Obdachlosen hat sie den Ruf der Kirche sicherlich gestärkt.
Was die Ebene der Interaktion angeht, findet in der Auferstehungsgemeinde viel in und um den generationsübergreifenden Gottesdienst statt. Hier soll Gästen eine Heimat gegeben werden, so dass im Zentrum des Gemeindelebens ein geselliges Miteinander steht. Damit sich die Gemeindeglieder nicht allein selbstgenügsam auf die eigene Gruppe orientieren, gibt es während der Woche auch Kreise und Bewegungen nach außen. Durch die Arbeit mit Asylbewerbern, Obdachlosen oder auch Eltern der Kita sollen mehr Menschen am Netzwerk der Kirchengemeinde teilnehmen können.
Die Auferstehungsgemeinde hat seit einiger Zeit eine selbstbewusste Liturgie ausgeprägt. Sie ist Ausdruck der Frömmigkeit derer Gemeindemitglieder, die schon länger am Gemeindeleben teilhaben. Wachstum wird hier so gestaltet, dass die Liturgie für die Bedürfnisse von z.B. Flüchtlingen durch fremdsprachliche Lesungen geöffnet wird.
Keine Angst vor demographischem Wandel - Ansehen der Kirche durch Taten der Nächstenliebe steigern
Am Beispiel von Mainz wird also deutlich, dass Kirche sehr wohl gegen den Trend wachsen kann. Hat man dabei aber lediglich die Anzahl an Menschen im Blick, die in den Gottesdienst oder zur Taufe kommen, verfehlt man das Wesen von Kirche. Zudem begibt man sich, was vermutlich noch schlimmer ist, in einen frustrierenden Kampf gegen die Windmühle „demographischer Wandel“. Versteht man Wachstum aber so, dass man das Ansehen der Kirche durch Projekte und Taten der Nächstenliebe steigert, Personen und andere zivilgesellschaftliche Akteure am kirchlichen Netzwerk beteiligt und zudem die eigenen Ausdrucksformen authentisch, also plural und individuell gestaltet, kommt man den Zielen von kirchlichem Wachstum schon ein gutes Stück näher. Dass sich dieses dann auch in Zahlen und Bilanzen niederschlägt, darf erwartet werden.
Serie „Kirchendämmerung oder Morgenröte?“
Einführung: Kirchendämmerung oder Morgenröte?
von Dr. Henning von Vieregge
Teil 1: Wachsen gegen den Trend (dieser Artikel)
von Adrian Schleifenbaum
Teil 2: Mission und Fürsorge
von Juliane Rupp
Teil 3: Licht auf dem Berge oder Salz der Erde: Missionarische Ausrichtung braucht Außenorientierung
von Dr. Henning von Vieregge