© Peter Bongard
Bilanz-Interview mit Kirchenpräsident Volker Jung
veröffentlicht 25.11.2024
von Online-Redaktion der EKHN
Volker Jung steht als Kirchenpräsident seit anderthalb Jahrzehnten an der Spitze der EKHN. Ende 2024 gibt der 64 Jahre alte Theologe sein Amt aus Altersgründen ab. Ein Gespräch über den Pfarrer im Kirchenpräsidenten, besondere Leidenschaften, persönliche Kraftquellen und die Zukunft der Kirche.
16 Jahre lang hat Volker Jung als Kirchenpräsident mit den evangelischen Kirchenmitgliedern in Hessen-Nassau viele Höhen und Tiefen geteilt: die Atomkatastrophe in Fukushima, die „Ehe für alle“, der Reformprozess ekhn2030, der Brexit und die Kriege in der Ukraine und Nahost sind nur einige der Ereignisse, die in seine Amtszeit fielen. Bis zum 31. Dezember 2024 steht Volker Jung als Kirchenpräsident an der Spitze der EKHN, seine Nachfolgerin ist Christiane Tietz. Volker Jungs Rückblick auf seine Amtszeit setzt auch Impulse für die Zukunft:
Herr Jung, Sie sind 2009 unter dem Motto angetreten, Sie wollten als Kirchenpräsident auch Pfarrer bleiben. Wie viel Seelsorger steckt nach 15 Jahren noch in dem Mann, der das Spitzenamt innehat?
Volker Jung: Ich habe damals gesagt, ich will als Pfarrer Kirchenpräsident werden und als Kirchenpräsident Pfarrer bleiben. Ich wollte damit zum Ausdruck bringen, dass ich das Amt des Kirchenpräsidenten als Pfarrdienst mit besonderer Aufgabe und Funktion verstehe. Ich nehme mich auch weiter als Pfarrer wahr, dem Gottesdienste, Begegnungen und die Begleitung von Menschen viel bedeuten.
Wie sieht das im Leitungsamt mit der Seelsorge konkret aus?
Volker Jung: Seelsorge ist etwas, das in meiner Rolle herausfordernd ist. Ich muss mich immer fragen: Wann ist es ein seelsorgerliches Gespräch, wann ist es ein Gespräch in einer vorgesetzten Funktion? Wichtig ist mir aber immer eine bestimmte Grundhaltung: Ich versuche, Menschen zuzuhören und aufzunehmen, was ihnen wichtig ist. Das nehme ich dann oft auch in die weitere Arbeit als Impuls mit hinein.
Welche Momente haben Sie als Kirchenpräsident am meisten überrascht?
Volker Jung: Das war immer dann, wenn Menschen mir davon erzählt haben, was ihnen der Glaube bedeutet oder wo ihnen Kirche besonders geholfen und Halt gegeben hat.
Denken Sie an eine bestimmte Situation?
Volker Jung: Ein Gespräch mit einem Ehepaar, dem eine Gemeinde Asyl gewährte, hat mich sehr berührt. Wie dankbar sie waren, dass Menschen aus der Kirchengemeinde an ihre Seite getreten sind und ihnen einen Raum gegeben haben, der ihnen Schutz bot. Und dann gibt es da natürlich eine Fülle von anderen Begegnungen, bei denen Menschen mir ihre Glaubens- und Lebensgeschichten anvertraut haben. Daran erinnere ich mich gern.
Gab es in Ihrem Amt auch besondere Herzensangelegenheiten?
Volker Jung: Ja, natürlich. Vor allen Dingen der Blick auf die Menschen, die es – aus welchem Grund auch immer – schwer haben, einen guten Platz für sich im Leben zu finden. Mich berührt immer wieder, wenn Menschen unter Armut leiden – ganz besonders Kinder. Mich erschüttert es, wenn Menschen Gewalt erfahren haben und ein Leben lang damit kämpfen. Und mich bewegt das Schicksal geflüchteter Menschen. Ich denke dann: Wie würde es dir selbst gehen, wenn du in einer solchen Situation wärst? Ich bin überzeugt, dass es uns vom Evangelium aufgetragen ist, Menschen besonders in den Blick zu nehmen, die Leid erfahren.
Ihr Einsatz für Geflüchtete war in der Öffentlichkeit aber auch stark umstritten.
Volker Jung: Ja, es gab Phasen massiver Kritik am Einsatz für geflüchtete Menschen. Es gab aber auch Kritik an meinem Einsatz für die Rechte homosexueller und später auch transsexueller Menschen. Auch der Dialog mit dem Islam war oft von vehementem Widerspruch begleitet.
Wie sind Sie mit der massiven Kritik umgegangen?
Volker Jung: Ich würde etwas Falsches sagen, wenn die Kritik immer einfach so an mir abgeperlt wäre und ich sie weggesteckt hätte. Es gab Zeiten, in denen es schon sehr hart war und in denen ich selber um Kraft gerungen habe.
Zum Beispiel?
Volker Jung: Es gab einen massiven Shitstorm im Internet, als ich die Aufnahme geflüchteter Menschen aus Afrika gefordert habe. Und es gab vielfältige Kritik, etwa als wir die Segnung homosexueller Paare der Trauung gleichgestellt haben. Da gab es auch etliche persönliche Anwürfe. Dass mir Menschen Krankheiten an den Hals gewünscht haben, war dabei noch harmlos.
Was gibt Ihnen in solchen Grenzsituationen Kraft?
Volker Jung: Für mich ist es immer wichtig, aus Glaubensquellen zu schöpfen. Ich habe für mich eine eigene Form des geistlichen Lebens entwickelt, die bei mir auch täglich verankert ist. Wie kann ich mir das vorstellen? Ich beschäftige mich zum Beispiel jeden Morgen mit der Tageslosung. Eine Kraftquelle ist für mich immer wieder auch die theologische Arbeit, wenn ich mich intensiv auf eine Predigt vorbereite und mich mit biblischen Texten beschäftige. Gleichzeitig gehört auch der Sport für mich dazu. Auch er hilft mir, Stress zu verarbeiten und eigene Kraftreserven zu mobilisieren. Oft kamen mir nach einem längeren Lauf ganz wunderbare Ideen, die ich dann auch umsetzen konnte.
Ihre Amtszeit war von tiefgreifenden Umwälzungen und Ereignissen begleitet. Die Flüchtlingskrise hatten Sie bereits erwähnt. Mit welchen ausgewählten, prägnanten „weltlichen“ Entwicklungen waren Sie als Kirchenpräsident besonders konfrontiert?
Volker Jung: Als ich Kirchenpräsident wurde, waren wir gerade in einer großen weltweiten Finanzkrise. Dann kam die Atomkatastrophe in Fukushima mit dem anschließenden deutschen Ausstieg aus der Atomenergie. Der Klimawandel und die Frage nach einer nötigen Transformation waren durchgängig Thema, ebenso wie Israel und Palästina. Dann gab es leider immer wieder neue Krisen und Kriege. Ich nenne nur die Stichworte: Griechenland, Brexit, Corona, Afghanistan, Iran, Ukraine. In unserer Gesellschaft hat sich vieles verändert: das Familienbild, der aufmerksamere Blick auf Minderheiten und diskriminierte Menschen. Die Digitalisierung verändert vieles mit großer Kraft. Mit großer Sorge sehe ich darauf, dass insbesondere rechtsextreme Kräfte stärker geworden sind und damit auch Antisemitismus, Islamophobie und Rassismus.
Inwieweit konnten Sie als Kirchenpräsident der EKHN bei der von Ihnen hervorgehobenen Entwicklung dazu beitragen, Weichen zu stellen oder Impulse zu geben?
Volker Jung: All diese Ereignisse hatten auch einen Einfluss auf uns als Kirche. Es geht immer um Menschen und wir nehmen als Christeninnen und Christen Anteil am Leben anderer. Es lässt uns nicht unberührt, wenn Menschen leiden. Wir beten für Menschen und wir fragen, was wir tun können, damit Menschen gut, gerecht und friedlich miteinander leben können.
Wo haben wir Weichen stellen oder Impulse geben können? Da denke ich besonders daran, dass wir durch viele engagierte Menschen gemeinsam mit anderen geholfen haben, dass viele geflüchtete Menschen gut begleitet und integriert werden konnten – und tun das weiterhin. Wir haben wohl auch mit dazu beigetragen, dass Familien in ihren vielfältigen Konstellationen eine höhere Akzeptanz haben. Wir setzen uns für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern ein. Und wir haben gemeinsam mit anderen bewirkt, dass sich der Blick auf Homosexualität und Transsexualität zum Positiven verändert hat.
Was würden Sie als Ihre wichtigsten Erfolge im Amt bezeichnen?
Volker Jung: Es gibt da zunächst Dinge auf der organisatorischen Ebene, die ich als gelungen betrachte. Die Weiterführung der Reform der Dekanate beispielsweise. Wir haben ihre Anzahl auf 25 reduziert und damit um fast die Hälfte seit meinem Amtsbeginn. Sie sind zu wichtigen Gestaltungsräumen geworden. Außerdem lag mir immer daran, die Zusammenarbeit der Kirchengemeinden zu stärken. Das trug dazu bei, dass wir jetzt Nachbarschaftsräume geschaffen haben. Dabei war mir auch immer wichtig, dass wir die Veränderungen nicht nur als Organisationsveränderung verstehen. Wir verändern, weil wir Kirche gestalten wollen, damit das Evangelium als lebensgestaltende Kraft Menschen erreicht. Ich denke auch, dass wir in der Mitgliederkommunikation auf einem guten Weg sind. Und dann gab es viele Gottesdienste und Veranstaltungen, die ich im Rückblick als gelungen bezeichnen würde.
Nun steckt die EKHN mitten im größten Transformationsprozess ihrer Geschichte. Und jetzt gehen Sie. Wie fühlt sich das an?
Volker Jung: Es ist wichtig, sich rechtzeitig klarzumachen, dass man in meiner Rolle niemals einen Punkt erreicht, an dem man sagen kann: Jetzt hast du irgendetwas abgeschlossen. Wir sind als Kirche in einem permanenten Prozess der Entwicklung und Weiterentwicklung. Das muss auch so sein. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir in den zurückliegenden Jahren gemeinsam einen guten Weg eingeschlagen haben.
Wagen Sie nach anderthalb Jahrzehnten im Amt einen prophetischen Blick auf die EKHN und wie sie in 15 Jahren aussehen wird?
Volker Jung: Zukunftsprognosen finde ich generell sehr schwierig. Für die EKHN glaube ich, dass wir in noch größeren Zusammenhängen miteinander arbeiten werden. Außerdem werden wir uns von vielem, was uns viel bedeutet, trotzdem trennen müssen. Dazu gehört vor allem der umfangreiche Gebäudebestand. Wir werden aber an vielen Orten präsent bleiben und für die Menschen auch in Zukunft da sein.
Am 26. Januar 2025 steht nun die Feier des Amtswechsels an. Was steht bei Ihnen danach als wichtiger Punkt im Kalender?
Volker Jung: Ehrlich gesagt hatte ich schon ein kleines Aha-Erlebnis beim Blick in den Kalender des nächsten Jahres. Es gibt zugegebenermaßen nicht mehr so viele Termine wie früher. Ich fühlte eine Mischung aus Erleichterung, aber auch ein wenig Erschrecken darüber. Sehr konkret steht Ende Januar aber ein ganz wichtiger Termin bereits fest: Meine Frau und ich werden wieder zurück in den Vogelsberg ziehen, nach Lauterbach.
Wenn Sie dem 2008 frisch zum Kirchenpräsidenten gewählten Volker Jung rückblickend ein paar Tipps geben könnten: Welche wären das?
Volker Jung: Ich würde ihm raten, auf jeden Fall selbst ein hörender Mensch zu bleiben. Ein Kirchenpräsident muss viel reden. Dazu ist es nötig, selbst zu hören – auf Gott und die Menschen. Und dann würde ich ihm raten, schnell zu lernen, einen guten Umgang mit Kritik, Angriffen und auch Lob zu finden.
Was möchten Sie am Ende Ihrer Amtszeit den Kirchenmitgliedern der EKHN mit auf den Weg geben?
Volker Jung: Die EKHN ist eine von Gott mit vielen und vielfältigen Menschen gesegnete Kirche, die sich oft großartig engagieren. Sie wird auch bei zurückgehenden Mitgliederzahlen und Ressourcen noch viele Möglichkeiten haben, wenn sie das Vertrauen nicht verliert, dass Gottes Kraft unter uns wirkt. Deshalb möchte ich den Kirchenmitgliedern der EKHN und anderen Menschen gerne sagen: Vertraut auf das, was Jesus in der Bergpredigt gesagt hat: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.“ (Mt 6,23)
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellten Volker Rahn und Rita Haering
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