Evangelische Kirche in Hessen und Nassau
Vier Personen mit Bibel

© Aaron Kniese / fundus.media

Das Pfarramt im Nachbarschaftsraum

veröffentlicht 03.12.2025

von Peter Bernecker

Die Synode hat eine theologische Reflexion zur künftigen Rolle des Pfarramts im Nachbarschaftsraum beraten. Die Kurzfassung fasst zusammen, wie sich Aufgaben und Verantwortung verändern – und welche Impulse die Kirche daraus für ekhn2030 gewinnt.

Die Synode der EKHN hatte die Kirchenleitung im Herbst 2024 gebeten, angesichts der Beschlüsse von ekhn2030 das Pfarrbild theologisch neu zu beleuchten. Das vorliegende Papier ist kein Beschluss, sondern eine Reflexion: Es beschreibt, welche Rolle Pfarrer*innen in den Nachbarschaftsräumen einer sich verändernden Kirche haben.

1. Ausgangslage: Wandel von Gesellschaft und Kirche

Säkularisierung, Individualisierung und sinkende Bindung an Kirche verändern auch den Pfarrberuf. Mit ekhn2030 verschiebt sich der Schwerpunkt 

  • von der Ortsgemeinde zum Nachbarschaftsraum,
  • von der Einzelperson im Pfarramt hin zu multiprofessionellen hauptamtlichen Verkündigungsteams,
  • von der Selbstverständlichkeit der pfarramtlichen Leitungsrolle als Mitglied im Kirchenvorstand zu differenzierten Formen von Leitung und Verantwortung.

Daraus entstehen neue Fragen: Worin besteht das Besondere des Pfarramts? Wie sieht Leitung im Nachbarschaftsraum aus?

2. Reformatorischer Hintergrund

Die Vorlage knüpft an den reformatorischen Kern an: Alle Getauften haben direkten Zugang zu Gott und den Auftrag, das Evangelium zu bezeugen („Priestertum aller Glaubenden“). Pfarrer*innen sind keine „höheren Geistlichen“, sondern von der Gemeinde berufene Personen mit einem öffentlichen Auftrag: Sie verkündigen das Evangelium und verwalten die Sakramente für die ganze Gemeinde und tun dies auf der Grundlage besonderer theologischer Kompetenz.
Leitung geschieht evangelisch immer gemeinsam durch Haupt- und Ehrenamtliche, im presbyterial-synodalen Miteinander.

3. Besonderer Auftrag von Pfarrer*innen im Nachbarschaftsraum

Das Proprium des Pfarramts definiert sich nicht über exklusive Aufgaben, sondern über eine besondere Perspektive: Pfarrer*innentragen in besonderer Weise Verantwortung für das Ganze der Kirche und damit für die theologische Gestalt der Kirche, was bedeutet: sie

  • halten biblische, historische, eschatologische und ökumenische Perspektiven wach,
  • schärfen das Bewusstsein für Pluralität und für die gleichzeitige Einheit der Kirche, verbinden den Nachbarschaftsraum mit gesamtkirchlichen Perspektiven,
  • erinnern an die Ausrichtung der Kirche auf alle Menschen,
  • bringen diese Ganzheitsperspektive aktiv in Transformationsprozesse ein.

Diese Verantwortung für das Ganze bedeutet nicht, dass Pfarrer*innen für alles Verantwortung tragen, und auch nicht, dass sie für das Verantwortung tragen, was sonst keiner machen will. Gemeint ist, dass sie diese theologische Ganzheitsperspektive von Kirche bewusst einspielen.  Darin besteht die theologische Leitung von Pfarrpersonen. 

Diese spezifische pfarramtliche Leitungsverantwortung bedeutet nicht, dass nicht auch andere Menschen im Nachbarschaftsraum Leitungsverantwortung tragen. Der Gemeindepädagoge trägt Leitungsverantwortung im Bereich der sozialraumorientierten Arbeit eines Nachbarschaftsraums. Die Kirchenmusikerin trägt Leitungsverantwortung im Bereich des künstlerisch-musikalischen Lebens eines Nachbarschaftsraums. Und der Kirchenvorstand trägt Verantwortung für das gesamte konkrete Gemeindeleben.

Pfarrer*innen, die im Kirchenvorstand mitarbeiten, nehmen dort ihre Verantwortung für das Ganze in Bezug auf die Gemeindeleitung im engeren Sinn wahr. Sie spielen dort biblische und historische Rückbindung, eschatologische Hoffnung und ökumenische Weite ein. Pfarrer*innen, die nicht im Kirchenvorstand mitarbeiten, spielen ihre Verantwortung für das Ganze der Kirche dort ein, wo sie konkretes Gemeindeleben gestalten. Im gegenwärtigen Transformationsprozess, in dem die Gefahr besteht, von den strukturellen Aufgaben im Nachbarschaftsraum aufgefressen zu werden, weiten Pfarrer*innen durch diese theologische Leitung den Blick aller.  So bleiben Pfarrer*innen „Schlüsselberuf“ für die öffentliche Wahrnehmung von Kirche, bei gleichzeitiger Aufwertung aller Professionen im Verkündigungsteam.

Synode – weiterer Impuls:

Die Synode hat angeregt, die Verantwortungsbereiche der anderen Berufsgruppen im Verkündigungsteam (Gemeindepädagog*innen, Kirchenmusiker*innen) in einer Fortschreibung des Papiers deutlicher zu beschreiben. 

4. Zentrale Spannungsfelder

Die Veränderungen im Nachbarschaftsraum verstärken Spannungen, die den Pfarrdienst schon lange begleiten. Die Vorlage benennt sie bewusst, um Orientierung für die Praxis zu geben.

4.1 Autonomie und Teamarbeit

Der Pfarrberuf ist traditionell von einem hohen Autonomiebedürfnis geprägt. Multiprofessionelle Teams erfordern jedoch:

  • verbindliche Dienstordnungen,
  • kluge Aufgabenverteilung,
  • gegenseitige Transparenz.

Der selbstgewählte kollegiale Austausch bleibt wichtig – ist aber von der verbindlichen Teamarbeit zu unterscheiden.

4.2 Macht und Verantwortung

Ausgehend von der ForuM-Studie und neueren Machtanalysen betont die Vorlage:
Pfarrer*innen üben – strukturell, deutungsbezogen und gestalterisch – immer Macht aus.
Diese muss transparent reflektiert werden.

Deshalb empfiehlt die Drucksache:

  • eine z.B. alle 2 Jahre rotierende Sprecher*innenfunktion in hauptamtlichen Verkündigungsteams,
  • klare Definitionen des Mandats der Mitglieder des hauptamtlichen Verkündigungsteams im Kirchenvorstand.

4.3 Nähe und Distanz

Nähe gehört zum Pfarrdienst, birgt aber – wie die ForuM-Studie zeigt – Risiken. Notwendig sind:

  • professionelle Rollenklarheit,
  • verbindliche Schutzkonzepte,
  • klare Grenze zwischen beruflicher und privater Nähe.

4.4 Lebensbezogenheit und berufsförmige Strukturen

Die Arbeitsgruppe verwendet bewusst den Begriff Lebensbezogenheit:

  • Pfarrer*innen prägen ihr Amt persönlich und aus ihrem Glauben heraus.
  • Gleichzeitig braucht es klare berufliche Strukturen:
    – Dienstzeiten,
    – Erreichbarkeitsregeln,
    – Priorisierung der Aufgaben,
    – gesundheitsförderliche Rahmenbedingungen.

4.5 Generationen im Pfarrdienst

Verschiedene biografische Prägungen treffen im Nachbarschaftsraum aufeinander. Das ist eine Chance und erfordert bewusste Kommunikation, Supervision und gegenseitiges Verständnis.

4.6 Multirationalität im Team

Pfarrer*innen, Gemeindepädagog*innen und Kirchenmusiker*innen bringen unterschiedliche professionelle Rationalitäten ein. Diese Vielfalt ist theologisch gewollt, sie braucht jedoch:

  • gegenseitige Wahrnehmung,
  • Klärung von unterschiedlichen Leitvorstellungen von Kirche,
  • theologische Rückbindung.

Pfarrer*innen tragen eine besondere Verantwortung, diese Vielfalt theologisch rückzubinden und konstruktiv zu gestalten.

5. Konsequenzen für Ausbildung und Berufsweg

Studium, Vikariat und Probedienst sollen verstärkt auf die Arbeit im Nachbarschaftsraum vorbereiten: auf Teamarbeit, Rollenreflexion, interprofessionelle Zusammenarbeit, ökumenische und gesellschaftliche Weite sowie auf die professionellen Spannungsfelder von Nähe/Distanz und Macht.

6. Kurzfazit

Die Vorlage beschreibt das Pfarramt im Nachbarschaftsraum als Beruf

  • mit besonderer Verantwortung für die theologische Gestalt der Kirche,
  • eingebunden in multiprofessionelle Teams,
  • geprägt von persönlicher Ansprechbarkeit auf den Glauben und klaren Strukturen,
  • sensibel für Machtfragen und Vielfalt.

Sie bietet damit einen theologischen Kompass für die gemeinsame Weiterentwicklung des Pfarramts in den Nachbarschaftsräumen von ekhn2030.

7. Offene Aufgaben und Ausblick

Die Vorlage markiert keinen Abschluss, sondern den Beginn weiterer Klärungen. Dazu gehören insbesondere die genaue Bestimmung des Mandats von einzelnen Mitgliedern des Verkündigungsteam im Kirchenvorstand, die Einrichtung einer Sprecher*innenfunktion im Verkündigungsteam, die Abstimmung der Rollen der verschiedenen Professionen im Nachbarschaftsraum und die Verankerung entsprechender Kompetenzen in Studium, Vikariat und Probedienst.

Weiteres Verfahren

Die Synode hat das Papier zur weiteren Beratung an die zuständigen und interessierten Ausschüsse überwiesen. Die eingebrachten Hinweise – insbesondere zur Rolle der anderen Berufsgruppen – werden von der Kirchenleitung in der weiteren Bearbeitung berücksichtigt.

Quellen: Drucksache 50/25, Einbringungsrede Prof. Dr. Tietz, synodale Anträge.

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