Evangelische Kirche in Hessen und Nassau

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Wie ein einsamer Vogel auf dem Dach

veröffentlicht 16.05.2025

von Martin Vorländer Pfarrer und evangelischer Senderbeauftragter für Deutschlandradio und Deutsche Welle

Einsamkeit – wie sie in der Bibel vorkommt, wie sie sich anfühlt und was hilft, mit ihr umzugehen.

Einsamkeit in der Bibel: Die Worte des Psalms geben ein Gegenüber

Sie steht vor ihrem Haus und schaut ihrer Besucherin noch lange nach, bis diese um die Ecke am Ende der Straße biegt und nicht mehr zu sehen ist. Dann erst geht sie langsam zurück in ihre Wohnung. Es kommt ihr vor, als ginge sie in ein Gefängnis zurück.

Die Räume waren eben noch erfüllt von den Gesprächen und der Präsenz ihrer Besucherin, die bei ihr übernachtet hat. Die Kaffeetassen vom Frühstück stehen noch auf dem Tisch. Sie will sie nicht gleich abräumen, weil sie ein Zeichen dafür sind: Hier war gerade noch jemand. Ich war nicht allein.

Seit ihr Mann gestorben ist, spürt sie die Leere. Die Stille in den Zimmern schreit sie an. „Ich langweile mich“, hat sie ihrer Besucherin beim Frühstück erzählt. Und dann leise hinzugefügt: „Ich bin einsam.“

Einsamkeit kann jede und jeden treffen

Ich dachte immer, ich bin ein Mensch, der gut für sich sein kann. Aber in der Corona-Zeit hat mich die Einsamkeit eingeholt.1 Ich war viel im Homeoffice. Am Anfang hat mir das nichts ausgemacht. Ich habe mir meinen Arbeitsplatz zu Hause gut eingerichtet. Ich war froh über mein Refugium, von dem aus ich wirken konnte. Ich war in Verbindung mit der Welt per Videokonferenz, Telefonschalte, Social Media.

So etwa nach eineinhalb Jahren hat sich die Einsamkeit eingeschlichen. Sie saß an meinem Bett vor dem Aufstehen und starrte mich in der Morgendämmerung an. Sie hockte in der Ecke, wenn ich am Schreibtisch werkelte. Sie schlich um mich herum, während ich mir in der Küche etwas zum Mittagessen machte. Sie kam sogar mit raus zum Spaziergang mit dem Hund.

„Don’t be lonely!“, sagte mir mein Mann, wenn er am Morgen in die Arbeit fuhr. Fühl dich nicht einsam! Ich habe trotzdem die Stunden gezählt, bis er am Abend endlich wieder nach Hause kam. So verzweifelt abhängig von einem anderen Menschen kannte ich mich bis dahin nicht.

Einsamkeit ist kein alleiniges Problem von Alleinstehenden

Einsamkeit verursacht ein wehes Gefühl im Inneren. So als wäre da irgendwo eine Lücke. Einsamkeit lässt den Magen zusammenkrampfen. Sie macht kleinmütig, so dass man sich selbst nicht wiedererkennt. Und wenn man meint, man habe sie abgeschüttelt, kommt sie erneut hervor mit ihrem griesgrämigen Gesicht: „Du wolltest mich loswerden? Denkste – da bin ich wieder!“

Sich einsam fühlen können Ältere genauso wie Kinder und junge Erwachsene oder Menschen in der Mitte des Lebens. Sie ist kein alleiniges Problem von Alleinstehenden. Viele Singles leben höchst vergnügt und haben zahlreiche Kontakte. Gleichzeitig sind andere zu zweit einsam oder fühlen sich inmitten einer großen Familie alleingelassen.

Einsamkeit ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Großbritannien hat deshalb 2018 ein eigenes Ministerium zur Überwindung von Einsamkeit eingerichtet.2 Auch in Japan gibt es politische Konzepte, wie man Menschen aus der Einsamkeits-Falle heraushelfen kann. Einsamkeit betrifft Millionen Menschen, aber sie spielt sich oft im Verborgenen ab. „Über Einsamkeit reden“ gehört zu den Strategien, um ihr zu begegnen.

Wir sind gemeinsam einsam

Einsamkeit verursacht ein wehes Gefühl im Inneren. So als wäre da irgendwo eine Lücke. Einsamkeit lässt den Magen zusammenkrampfen. Sie macht kleinmütig, so dass man sich selbst nicht wiedererkennt. Und wenn man meint, man habe sie abgeschüttelt, kommt sie erneut hervor mit ihrem griesgrämigen Gesicht: „Du wolltest mich loswerden? Denkste – da bin ich wieder!“

Sich einsam fühlen können Ältere genauso wie Kinder und junge Erwachsene oder Menschen in der Mitte des Lebens. Sie ist kein alleiniges Problem von Alleinstehenden. Viele Singles leben höchst vergnügt und haben zahlreiche Kontakte. Gleichzeitig sind andere zu zweit einsam oder fühlen sich inmitten einer großen Familie alleingelassen.

Dass ich mich getraut habe, mit anderen darüber zu sprechen, hat mir geholfen. Überrascht habe ich festgestellt: Ich bin nicht der Einzige. Anderen geht es ähnlich. Wir sind gemeinsam einsam. Es klingt paradox, aber dadurch habe ich mich weniger verlassen gefühlt.

Hemmungslos vor Gott ausschütten, was die Einsamkeit mit einem macht

Es tut außerdem gut, dass ich Worte gefunden habe, wie andere dieses Gefühl beschreiben. In einem Psalm in der Bibel betet ein Mensch so zu Gott:

Ich bin wie eine Eule in der Wüste, wie ein Käuzchen in zerstörten Städten. Ich wache und klage wie ein einsamer Vogel auf dem Dach.

Psalm 102,7-8

So habe ich mich gefühlt: wie in die Wüste geschickt. Innerlich klein wie ein Käuzchen. Wie ein Vogel auf dem Dach weit weg von dem, wo das Leben sich abspielt. 

Immerhin: Die Worte des Psalms geben mir ein Gegenüber. Sie richten sich an Gott: „Gott, höre mein Gebet und lass mein Schreien zu dir kommen!“ So beginnt der Psalm und setzt damit voraus: Da ist jemand, der mich hört. Mein Schreien geht nichts ins Leere. Ich kann hemmungslos vor Gott ausschütten, was die Einsamkeit mit mir macht.

Die Stärke des Psalms ist, dass er die innere Schwäche nicht ausspart. Das Gottvertrauen wird brüchig, wenn die Einsamkeit die Seele überfällt. Die Beterin oder der Beter des Psalms schwankt innerlich. Mal bittet sie oder er – und man hört dabei fast, wie die Stimme zittert: „Verbirg dein Antlitz nicht vor mir in der Not!“ (Psalm 102,3) Gottes Antlitz bedeutet Leben. Verbirgt sich Gott, dann bin ich dem, was mich bedroht, preisgegeben.

Dann wieder klingen die Worte des Psalms fest und zuversichtlich: „Du aber, Gott, bleibst ewiglich und dein Name für und für.“ (Psalm 102,13) Gott wendet sich zu. Gott verschmäht das Gebet der Verlassenen nicht. In diesem fragilen Gottesvertrauen zwischen Angst vor Gottverlassen-Sein und Zuversicht habe ich mich in meiner Zeit der Einsamkeit wiedergefunden. 

Einsamkeit ist etwas Anderes als Alleinsein

Für sich sein, ungestört von anderen, das braucht es, um konzentriert arbeiten zu können. Viele Mütter und Väter sehnen sich danach: einfach mal die Tür hinter sich zumachen können, für niemanden anderen da sein müssen – nur für sich.

Alleinsein kann eine Quelle für Kreativität sein, wenn ich meinen Gedanken und Ideen freien Lauf lasse und sie umsetze, handwerklich, künstlerisch oder mit „dolce far niente“, mit süßem Nichtstun. Alleinsein tut gut, wenn ich mich von den vielen Stimmen der anderen und dem Trubel des Alltags erholen muss.

Spiritualität und Beten gibt es zusammen mit anderen, aber auch ganz allein. Nur ich und mein Gott. Der Rest der Welt bleibt außen vor. Jesus hat das so gemacht. Als bekannt wurde, was für Wunder Jesus tun kann, kam eine große Menge zusammen, die alle etwas von ihm wollten. „Er aber entwich in die Einöde und betete.“ (Lukas 5,16) Das kommt mehrfach in den Evangelien vor: Jesus zieht sich zurück und schöpft neue Kraft in der Abgeschiedenheit mit Gott.

Bevor Jesus anfängt zu wirken und zu predigen, führt ihn Gottes Geist in die Leere der Wüste. (Matthäus 4,1-11) Er fastet dort 40 Tage und 40 Nächte. Kein Mensch ist an seiner Seite. Nur der Teufel, der ihn versucht zu versuchen. Und Engel, die ihm dienen, nachdem der Teufel erfolglos das Weite gesucht hat. Wüstenzeit als Zeit der Besinnung und Bewährung.

Es kostet Selbstüberwindung, einzugestehen: Ich bin einsam.

Alleinsein ist eine intensive Erfahrung, die ich immer wieder brauche, um zur Ruhe oder innerlich weiter zu kommen. Einsamkeit dagegen lässt mich verkümmern. Sie macht mich klein und entfernt mich von dem, was ich sein könnte. Sie lässt mein Selbst- und Gottvertrauen schrumpfen. Ich bin nicht ich selbst – nur ein kläglicher Rest. 

Ich habe eine Zeit gebraucht, bis ich gemerkt habe, was mit mir los ist. Es hat mich Selbstüberwindung gekostet, mir selbst einzugestehen: Ich bin einsam. Und es dann vor anderen auszusprechen.

Irgendwann habe ich gegengesteuert und wieder mehr Tage im Büro eingebaut. Da herrscht zwar nach wie vor kein Vollbetrieb wie früher. Aber ich begegne doch leibhaftigen Menschen. Allein schon auf dem Weg zur Arbeit andere Leute auf der Straße zu sehen, lässt die Einsamkeit mit enttäuschter Miene zurück.

Man kann auch andere Gegenmaßnahmen ergreifen. Die eigenen vier Wände verlassen und rausgehen. Ideen wie „Ich könnte mal den oder die anrufen“ oder „Ich könnte mal ins Kino gehen“, diese Ideen nicht bei dem „ich könnte“ belassen, sondern es tatsächlich tun. Sich Hilfe bei anderen holen.

Ich mache mir keine Illusion: Die Einsamkeit wird immer wieder bei mir vorbeischauen. Dann will ich besser vorbereitet sein auf ihren Besuch und sagen können:

Liebe Einsamkeit, wir kennen uns ja schon. Du bist also mal wieder zu Gast und weißt: Gäste kommen – und gehen wieder!

[1] In der Corona-Zeit sind die Einsamkeitsgefühle in Deutschland gestiegen. In einer Studie 2021 gaben rund 42 Prozent der Befragten an, einsam zu sein. BMFSFJ – Wissen zu Einsamkeit vertiefen, aufgerufen am 08.10.2023.

[2] Großbritannien hat künftig ein Ministerium für Einsamkeit – DER SPIEGEL, aufgerufen am 08.10.2023.

© gobasil

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