Evangelische Kirche in Hessen und Nassau
95 Thesen

© Jonas Schramm

Auch heute können Besucher an der Tür der Schlosskirche Wittenberg die 95 Thesen Martin Luthers nachlesen - allerdings in der Originalsprache Latein
  • Reformationstag

Was bedeuten die 95 Thesen Martin Luthers?

veröffentlicht 27.05.2023

von Martin Vorländer

Der Reformationstag erinnert daran, dass Martin Luther an der Tür der Schlosskirche in Wittenberg 95 Thesen veröffentliche. Was steckt hinter diesen Worten?

Der Reformationstag erinnert an die Veröffentlichung der 95 Thesen Martin Luthers. Aber was hat es damit auf sich? 

epd-Video: Darum geht es am Reformationstag

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In das eigene Lebensgefühl hineingespürt

»Ich bin mit mir im Reinen«, sagt die alte Dame. Sie schaut zurück auf ihr Leben. »Ich spüre eine große Zufriedenheit in meinem Herzen. Alles ist gut so, wie es war und ist.« Beeindruckend, wenn man so dem Ende seines Lebens entgegensehen kann. Aber was, wenn die Bilanz bitter ist? Was ist, wenn ich das Gefühl habe: Ich habe mein Leben vertan. 

Eigentliche Absichten erbarmungslos auf dem Prüfstand

So ging es dem jungen Martin Luther. Er hatte eine Höllenangst davor, nicht nur in diesem Leben zu scheitern. Noch mehr fürchtete er sich davor, wie er nach dem Tod vor Gott Gnade finden kann. Luther zog ständig erbarmungslos Bilanz und analysierte sich selbst: Alles, was ich tue, und seien es noch so fromme, gute Werke, tue ich doch nur aus Eigennutz. Ich beichte meine Sünden und tue Buße. Aber was ist meine Reue wert, wenn ich sie nur aus Furcht vor Gottes Strafe zeige? Ich gebe Almosen, aber nicht aus Nächstenliebe. Ich will Gott zeigen: Schau, was ich Gutes tue. 

Seelenheil soll man kaufen können?

Diese Verzweiflung erlebt Luther wie ein Fegefeuer auf Erden. Seit über zehn Jahren sucht er als Mönch im Kloster und als Bibelprofessor eine Antwort auf seine Frage: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Die Kirche damals hat ein Angebot, dem man kaum widerstehen kann: Ablassbriefe. Papst Leo X. persönlich bestätigt mit Brief und Siegel, dass dem Käufer eines Ablassbriefs die Strafen für seine Sünden erlassen sind. Man kann sogar Ablassbriefe für bereits verstorbene Angehörige kaufen. Das ist im Kern eine tröstliche Lehre. Aber die Kirche macht ein Geschäftsmodell daraus. Sie verkauft das Versprechen auf Seelenheil und finanziert mit dem Geld zum Beispiel den Bau des Petersdoms in Rom. 

Seelenheil soll man also kaufen können? Luther hat lange damit gerungen und in der Bibel geforscht: Was rettet wirklich aus Verzweiflung? Was ist Buße eigentlich? 1517 ist die Zeit reif. Luther schreibt seine 95 Thesen. Sie verbreiten sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land und machen den 34-jährigen Augustinermönch und Bibelprofessor Martin Luther über Nacht berühmt. Doch was steht eigentlich in den Thesen?

Glaube als Geschäft?

»Lug und Trug predigen diejenigen, die sagen, die Seele erhebe sich aus dem Fegfeuer, sobald die Münze klingelnd in den Kasten fällt«, schreibt Luther. »Zu glauben, die päpstlichen Ablässe seien derart, dass sie einen Menschen absolvieren könnten, selbst wenn er – gesetzt den unmöglichen Fall – die Gottesgebärerin vergewaltigt hätte, das ist verrückt.« 

Da stockt einem heute noch der Atem. Sogar die Kirchenfürsten damals merken, dass ihre Ablassprediger mit solchen Sätzen schlimmen Schaden anrichten. Die Menschen spüren, dass der Ablasshandel aus Religion ein schmutziges Geschäft macht. 

Vertrauen auf Gott 

Luther kritisiert nicht nur die Praxis seiner Kirche scharf. Er beschreibt in den Thesen auch, was gegen Verzweiflung und Angst hilft, was wirklich selig macht. Für ihn ist klar: Ich kann noch so sehr versuchen, ein guter Mensch zu sein. Ich werde immer wieder daran scheitern. Jahrelang ist er darüber verzweifelt. Bis er entdeckt: Ich kann mich selbst nicht erlösen. Mich macht nicht selig, was ich selber Gutes tue, sondern was Gott Gutes für mich tut. 

Aber wozu müssen wir dann noch büßen, wenn wir doch gar nichts tun können und Gott allein uns aus unserem Teufelskreis befreit? In der ersten seiner 95 Thesen schreibt Luther: Christus will, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei. Buße besteht für Luther aus zwei Schritten. Der erste Schritt ist die Reue darüber, was ich getan habe, zu welchen Gedanken, Gefühlen und zu welchem Verhalten ich fähig bin. Reue ist das Erschrecken darüber: Das habe ich getan. So bin ich. Aber so will ich nicht sein. 

Eigene Fehler vor Gott benennen

Luther nennt die Buße ein Zwiegespräch des Gewissens mit Christus im stillen Kämmerlein. Vor Gott kann ich aussprechen, was ich keinem anderen sagen würde. Er verdammt mich nicht, egal wie ich zu ihm komme. Das ist der zweite Schritt der Buße: das Vertrauen darauf, dass Gott mich freundlich aufnimmt und bedingungslos liebt.

Für Luther führt Buße zu einem »fröhlichen, friedlichen Herz«. Buße kommt von Besserung. Sie setzt voraus: Wir können uns und unser Verhalten zum Besseren verändern. Wie das geht, dafür gibt es heute jede Menge Tipps und Ratschläge. Mehr Sport machen. Weniger Fleisch, mehr Gemüse essen. Bevor ich aus der Haut fahre, tief durchatmen. Solche Ratschläge zur Selbstoptimierung gab es auch zur Zeit Luthers. Sie sahen nur anders aus: Bete, faste, gib Almosen, und wenn du ganz konsequent sein willst, geh ins Kloster. Das hat Luther alles gemacht. 

Gottes Liebe als Basis der Veränderung

Er hat dabei aber gemerkt: Das hilft ihm alles nichts. Wenn er nicht tief in sich darauf vertraut: Ich bin von Gott geliebt, so wie ich bin. Das ist der Boden, auf dem ich stehe. Von da aus kann ich mich munter und fröhlich verändern. Luther hält fest: Ein Mensch kann sich bessern, wenn er sein Verhalten ändert. 

In seinen Thesen schreibt Luther: »Durch ein Werk der Liebe wächst die Liebe, und der Mensch wird besser.« Der gute Vorsatz allein »Man sollte mal« ändert nichts. Oft kommt die Wende zum Besseren, wenn ich anfange und etwas tue. Werke der Liebe sind in Luthers Thesen: den Armen geben, einen Bedürftigen sehen und sich um ihn kümmern. Es geht um den Blick über mich selbst hinaus, um die Aufmerksamkeit für andere. Gutes tun kann einen Menschen bessern. 

Auf Gnade Gottes vertrauen statt Perfektion anstreben

Auf der anderen Seite ist Luther Realist. Es bleibt ein lebenslanger Prozess, ein besserer Mensch zu werden. Es gibt nicht den Status, auf dem ich sagen kann: Jetzt habe ich es geschafft. Jetzt stehe ich gut da vor den anderen und vor Gott. Ich kann mich entwickeln, ich kann innerlich wachsen. Aber ich werde immer wieder auf mich selbst zurückgeworfen. 

Perfekt werden wir nicht, und zu Heiligen können wir uns nicht selber machen. Für Martin Luther ist das kein Grund zur Verzweiflung. Denn es gibt Besseres als Perfektion. Martin Luther nennt es die Gnade Gottes. Das ist die Entdeckung: Ich muss mich nicht abstrampeln, verrenken und verkrampfen, damit ich etwas vorweisen kann und Gott freundlich auf mich schaut. Ich kann den Sinn meines Lebens nicht selber herstellen. Ob es Erfolg ist oder Liebe und Familie, Begabung oder Besitz, Ansehen und Aussehen, ich habe es nicht in der Hand, ob das hält und mich ein Leben lang trägt. Darüber könnte ich resignieren und daran verzweifeln. 

Grund und Halt - aber keine Garantie auf Glück

Luther tut es nicht. Er vertraut umso stärker darauf: Gott gibt meinem Leben Grund und Halt. Die Erfüllung des Lebens, was mich befreit und selig macht, hängt nicht von mir ab, sondern kommt ganz allein von Gott. 

Das Vertrauen auf Gott ist aber keine Garantie auf Glück. Luther sagt das sperrig und unbequem in den letzten beiden seiner 95 Thesen: »Man muss die Christen ermutigen, darauf bedacht zu sein, dass sie ihrem Haupt Christus durch Leiden, Tod und Hölle nachfolgen.« Und weiter: »Und so dürfen sie darauf vertrauen, eher durch viele Trübsale hindurch in den Himmel einzugehen als durch die Sicherheit eines Friedens.«

Kein religiöses Wohlfühlprogramm

Es ist kein religiöses Wohlfühl-Programm, das Martin Luther in seinen Thesen beschreibt. Aber es ist realistisch. Ich kann versuchen, die Welt um mich herum besser und freundlicher zu machen. Aber wir schaffen nicht den Himmel auf Erden. Ich kann ein Leben lang daran arbeiten, mich zu bessern, und werde doch immer wieder scheitern. 

Sündige tapfer und bessere dich munter

Was ist die Konsequenz? Die Hände in den Schoß legen und resignieren? Nein! Luther ermutigt. Er schreibt einmal an einen Freund auf Latein: »Pecca fortiter!« – Sündige tapfer! Du bist Mensch und nicht Gott. Gott sollst du auch gar nicht sein, sondern jeden Tag neu dein Bestes geben. Also, sündige tapfer! Und dann kommt bei Luther ein wichtiger zweiter Satz: »Sed fortius fide!« Aber vertraue noch tapferer auf Christus. Damit meint Luther: Du musst dich nicht durch Bußübungen oder Besserungsprogramme selbst erlösen. Dein Herz wird friedlich und fröhlich, wenn du darauf vertraust, dass Gott dich so annimmt, wie du bist. Und dann: Bessere dich munter drauflos!

Buchtipp: ‧Luthers Original-‧Thesen als Faksimile-Nachdruck. Thomas A. Seidel (Hg.): »Martin ‧Luther. Aus Liebe zur Wahrheit. Die 95 Thesen«; Westhafen-Verlag 2017; 66 Seiten; 9,95 Euro.

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