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Christliche Minderheit im Nahen Osten: Stimme erheben, sichtbar bleiben
„Es ist wichtig, sich verbunden zu wissen“, sagt Saba Kerry, Theologie-Student an der „Near East School of Theology“ (N.E.S.T) in Beirut. „Als Christen sind wir nur eine kleine Gruppe im Nahen Osten, oft werden wir nicht gesehen. Und oft werden unsere Stimmen nicht gehört“. Die aus Lehrenden und Studierenden der Hochschule im Libanon bestehende Gruppe war eine Woche unter anderem auf Einladung der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS), ansässig in Stuttgart, und des Zentrums Oekumene in Frankfurt in Deutschland unterwegs. Zu ihrem Programm zählten Vorträge und Begegnungen, unter anderem auch mit der Kirchenpräsidentin der EKHN, Christiane Tietz ebenso wie mit der Bischöfin der EKKW, Beate Hofmann.
Theologie als Kraftquelle in einer Region voller Spannungen
Rima Nasrallah, Professorin für Praktische Theologie an der N.E.S.T., sagte: „In einer Zeit, in der Religion benutzt und missbraucht wird als Waffe für eigene nationalistische Interessen, zur Unterdrückung und für Gewalt, sind wir tagtäglich als Christen existentiell herausgefordert. Theologie hilft, kritische Fragen zu stellen und Religion als Ideologie zu unterscheiden vom Glauben an Gott, der mir im Leben Kraft und Halt gibt“.
Junge Christen im Libanon: Zwischen Auswanderung und Hoffnung
Und George Sahili, der gerade an der N.E.S.T. seinen Master in Theologie erfolgreich abgeschlossen hat, ergänzt: „Die Jugend ist desillusioniert, die meisten wollen weg“. George möchte aber bewusst bleiben. Der evangelisch-armenische Christ und zukünftige Pfarrer will seiner Kirche im Libanon dienen. „Die jungen Menschen brauchen Orientierung. Theologie ist bei uns existentiell. Sie hat direkt mit unserem Leben zu tun. Sie ist eine Chance, Hoffnung zu schenken, die eigene Würde zu bewahren. Sie stärkt uns, denn Theologie bietet uns Perspektiven gegen jede Art von religiösem Fanatismus.“
Frauen in Leitungsfunktionen: Pionierarbeit im Nahen Osten
Mathilde Sabbagh, 35, ist Pfarrerin der syrisch-libanesischen Presbyterianer. Eine Rarität, denn erst fünf Frauen gebe es in ähnlicher Position in der Region in den protestantischen Kirchen, erzählt sie. Sabbagh berichtet, sie reise immer wieder von ihrer Heimatstadt Hassakeh im Nordosten Syriens bis nach Beirut. Für die Mutter von Zwillingen ist das aufgrund der von unterschiedlichen Gruppen kontrollierten Gebieten in Syrien sehr anstrengend. „Ich empfinde die Verantwortung“, sagt sie über ihre Arbeit und lacht, sie strahlt Stärke aus. „Ich komme aus einer religiösen Familie, mein Bruder ist auch Pfarrer.“
Beeindruckende Einblicke: Kirchenpräsidentin Tietz über den Glaubensalltag
Hessen-Nassaus Kirchenpräsidentin Christiane Tietz betonte: „Ich bin sehr beeindruckt von unserer Begegnung. Mich bewegt, wie existentiell Christinnen und Christen im Libanon in schwierigster Zeit um den Glauben an Gott ringen und theologisch an der N.E.S.T. die großen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen durchbuchstabieren. Insbesondere bei Gerechtigkeitsfragen kommt hier protestantische Theologie als kritisches Denken zur Geltung.“
Libanons Christen im Spannungsfeld geopolitischer Krisen
Andreas Goetze, der vom Zentrum Oekumene aus das Begegnungsprogramm mit organisiert hat, hebt die Bedeutung des Besuchs hervor: „Wir wissen so wenig über die prekäre, höchst angespannte Lage der Christinnen und Christen in der Region. Im Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah drohen Libanons Christen zwischen die Fronten zu geraten. Und auch die Lage in Syrien ist sehr instabil und gefährlich und alles andere als sicher“, sagt der in dem Zentrum für Interreligiösen Dialog – Islam, Christ*innen im Mittleren Osten Verantwortliche.
Bildungsbrücke zwischen Deutschland und dem Nahen Osten: Das SiMO-Programm
Goetze war 2007 vor Ort: „Eine Zeit, die mich sehr geprägt hat“. Susanna Faust Kallenberg, seine Vorgängerin im Zentrum Oekumene, inzwischen Pfarrerin für interreligiösen Dialog im Evangelischen Stadtdekanat Frankfurt und Offenbach, hat früher das „Studium im Mittleren Osten“ (SiMO-Programm) koordiniert. Für zwei Semester führt es an die Hochschule mit dem Schwerpunkt Islam und orientalische Kirchen. Die deutschen Studierenden an der N.E.S.T. hätten sich oft nur schwer losreißen können, so faszinierend sei das Studium in Beirut gewesen, berichtet Faust Kallenberg.
Auftakt der Reise, wenige Stunden nach der Landung, war ein Abend in der Evangelischen Akademie Frankfurt mit Vortrag und Empfang.
Narrative hinterfragen: Professor Accads Plädoyer für Empathie und Bildung
Professor Martin Accad, seit September 2024 Präsident der N.E.S.T., hielt einen öffentlichen Vortrag über „Christen und Muslime jenseits der Opferrollen“. Die Opfer-Narrative seien bequem, meint Accad, so seien immer die anderen verantwortlich für alles, was passiert. Die Welt werde dann schnell eingeteilt in „Wir – und die Anderen“.
Der an der N.E.S.T. und in Oxford ausgebildete Theologe warb für einen Dialog, der die unterschiedlichen Narrative wahrnimmt, ohne ihnen einfach recht zu geben. Es gehe um Respekt, Empathie, Menschlichkeit, „um ein aktives Zuhören“. Dafür brauche es mehr religiöse Bildung auch bei denen, die sich als nicht religiös verstünden, findet der Theologe.
Helge Bezold und Annegreth Schilling, Theologische Studienleiter der Akademie, bereiteten die Veranstaltung vor. Schilling findet, dem „Horizonte öffnen“ diene auch die Anwesenheit von Pater Gaby Geagea von der Maronitenmission Frankfurt, deren Wurzeln im Libanon und Syrien liegen, bei Vortrag und Diskussion.
Christliche Vielfalt in Beirut: Erinnerungen und neue Perspektiven
Thorsten Peters, Pfarrer der Gethsemanegemeinde im Frankfurter Nordend, zählt zu den hessischen Theologinnen und Theologen, die sich lebhaft an den Aufenthalt im Libanon erinnern und die an dem Empfang teilnahmen. Als eine Region, in der das Christentum geographisch wurzelt, hat er sein Umfeld vor neun Jahren erfahren. Beirut erlebte er als eine Stadt mit ganz verschiedenen christlichen Facetten. In Erinnerung kommen ihm die Graffitis, die an den Genozid an den Armeniern Anfang des 20. Jahrhunderts im Osmanischen Reich erinnern. In Beirut fanden sie Zuflucht.
Die Near East School of Theology: Zentrum protestantischer Ausbildung im Nahen Osten
An der „Near East School of Theology“ leben und studieren Protestantinnen aus unterschiedlichen nah- und mittelöstlichen Ländern, ob armenisch-evangelisch, Anglikaner, Lutheraner oder Reformierte aus Palästina, Syrien, Libanon oder Armenien. Die Hochschule ist die älteste (gegründet 1932) und einzige protestantische Ausbildungsstätte neben einem Seminar in Kairo, an der junge Menschen zu Pfarrerinnen oder Religionspädagog*innen der genannten evangelischen Kirchen ausgebildet werden.
Es können an der N.E.S.T. verschiedene staatliche Abschlüsse erworben werden, die zum Dienst in den Kirchen oder zur weiterführenden Forschung befähigen. Die N.E.S.T. befindet sich im westlichen Teil Beiruts, in der Nachbarschaft wichtiger pädagogischer und kultureller Institutionen. Ihre Bibliothek verfügt über rund 42.000 Bände in englischer, arabischer, armenischer, französischer und deutscher Sprache.
Darüber hinaus bietet das Studienprogramm „Studium im Mittleren Osten“ die Möglichkeit für Studierende aus Deutschland, an der N.E.S.T. zu studieren: SiMO und SiMO+ bieten Studierenden und Graduierten die Möglichkeit, an der traditionsreichen protestantischen Hochschule in Beirut im Libanon zu leben und zu studieren. Auch können Praktika in lokalen kirchlichen und zivilgesellschaftlichen NGOs mit unterschiedlichen Zielgruppen absolviert werden. Beide Programme bieten die einmalige Möglichkeit, die kulturelle und religiöse Vielfalt des Libanon zu erleben und eine einzigartige Auslandserfahrung in der mittelöstlichen Metropole Beirut zu machen.
Mehr Informationen unter: http://simo-studienprogramm.org
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